Wie kann Englischunterricht in heterogenen Klassen gelingen, ohne dass die Starken sich langweilen und die Schwächeren zurückbleiben? Das neue Lehrmittel «Reach Out» setzt auf konsequente Differenzierung und jeweils dort auf die Vorteile des Digitalen, wo der didaktische Nutzen am grössten ist. Christof Chesini, Co-Projektleiter Inhalt von «Reach Out», im Interview.
Herr Chesini, wie würden Sie das Konzept des neuen Englischlehrmittels kurz und knapp beschreiben?
«Reach Out» ist ein zielgruppen- und kompetenzorientiertes Lehrmittel, das dank konsequenter Differenzierung mehr Lernende erreicht – von schwächeren bis zu sehr starken Schülerinnen und Schülern. Kommunikative, linguistische und interkulturelle Fähigkeiten werden systematisch aufgebaut. Das Lehrmittel ist hybrid angelegt und nutzt je nach Lernziel und Lerninhalt die jeweiligen Stärken von Print und Digital.
Wie wird das Lehrmittel den Bedürfnissen von Schulen und Lehrpersonen gerecht?
Leitend bei der Entwicklung waren Praxistauglichkeit und Planungssicherheit. Heterogene Klassen und enge Zeitfenster sind Realität im Unterricht. Lehrpersonen brauchen ein Werkzeug, mit dem sich Lernziele in wenigen, gut strukturierten Lektionen erreichen lassen. Unser Ziel war ein Lehrmittel, das im heterogenen Schulfeld funktioniert – statt der «einen perfekten» Lösung setzen wir auf Formate, die sich flexibel an unterschiedliche Schulmodelle und Situationen anpassen lassen.
Wie wird die Praxistauglichkeit sichergestellt?
Unser Projektteam besteht aus Lehrpersonen sowie Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern mit viel Erfahrung aus der Praxis. Hinzu kommt die Erprobung mit 50 Lehrpersonen aus verschiedenen Kantonen und Niveaus: So können wir testen, ob wir die Bedürfnisse der Schulen wirklich treffen – und wo wir nachschärfen müssen.
Was wünschen sich die Schulen in Bezug auf Differenzierung?
Lehrpersonen wünschen sich eine klare Differenzierung und gleichzeitig die Möglichkeit, den Unterricht weitgehend gemeinsam in niveaugemischten Klassen zu gestalten. Beide Wünsche gleichzeitig zu erfüllen, ist anspruchsvoll. Wir haben die Grenzen so weit wie möglich ausgelotet, um beide Anliegen unter einen Hut zu bringen: differenziert arbeiten, ohne die Klasse zu verlieren, und trotzdem Brücken zwischen den Niveaus zu schlagen.
Wie geht «Reach Out» mit den sehr unterschiedlichen Sprachkompetenzen im Fach Englisch um?
«Reach Out» bietet in drei Jahrgangsbänden Inhalte systematisch auf vier Niveaus an: G support, G (Grundanspruch) und E (erweiterter Anspruch). E plus richtet sich an Advanced Learners und Native Speaker. Die Differenzierungsangebote für diese Gruppe sind im E-Band integriert. G support wiederum bietet gezielte Unterstützung, um schwächere Lernende an den Grundanspruch heranzuführen. Diese enorme Spannweite wurde durch die «Überprüfung des Erreichens der Grundkompetenzen» (ÜGK 2023) bestätigt: Je nach Kompetenzbereich erreichen rund 80 bis 85 Prozent der Lernenden die Ziele – 15 bis 20 Prozent jedoch nicht.
Wie genau unterstützt das Lehrmittel die schwächeren Lernenden?
Wir vereinfachen den Zugang, ohne ihnen spannende Inhalte vorzuenthalten. Das Bild vom Schwimmen trifft es gut: Nichtschwimmer müssen im Schwimmunterricht nicht gleich einen Kilometer schwimmen. Wir starten mit Schwimmhilfe nah am Beckenrand – zuerst sind es zwei Meter, dann fünf, später zehn. Und jeder Fortschritt wird bewusst gewürdigt.
Übertragen heisst das: Die ganze Geschichte bleibt erhalten, der Lernprozess wird anders rhythmisiert – klare Struktur, kleinere Aufgaben, Zeit zum Absichern. So erfassen auch sprachlich schwächere Lernende die Kernelemente und erleben regelmässig Erfolg. Am Ende «schwimmen» alle zehn Meter – aber auf unterschiedlichen Wegen.
Wie genau fördert das Lehrmittel die starken Schülerinnen und Schüler?
Starke Lernende arbeiten nicht isoliert auf Inseln, sondern bringen ihre Sprachstärke aktiv in die Klasse ein. Alle arbeiten mit demselben Ausgangstext; Leistungsstarke schwenken dort aus, wo es sinnvoll ist, und gehen einen Schritt weiter – etwa, indem sie ein Quiz zum Text vorbereiten. Dieses wird in der Klasse eingesetzt und die Starken moderieren, erklären, geben sprachliches Feedback. So bleibt ihr Können sichtbar, ohne dass sie stundenlang allein arbeiten müssen. Zusätzlich haben wir eigens für zweisprachige und besonders starke Lernende mit «Go beyond» eine Rubrik geschaffen, in der zusätzliche Arbeitsmaterialien angeboten werden, die thematisch passen und parallel zur Arbeit an der Unit bearbeitet werden können.
Welche Rolle spielt das Digitale in Bezug auf Differenzierung?
Digitale Medien setzen oft zusätzliche Motivation frei und geben den Lernenden Kontrolle: Videos und Audios lassen sich stoppen, zurückspulen oder verlangsamen. Wer merkt, dass fünf Fragen in einem Durchgang nicht machbar sind, portioniert den Input selbst.
Früher lief das Audio einmal für alle über den CD-Spieler – heute bestimmt jede und jeder das Tempo selbst. Die E-Plus-Schülerin hört einmal und notiert die Antworten. Der G-support-Schüler braucht vielleicht eine Viertelstunde, macht Pausen und hört mehrmals. Beides ist in Ordnung – entscheidend ist, dass am Ende alle die fünf Fragen beantworten können.
Wie unterstützt das Digitale die Durchlässigkeit zwischen den Niveaus?
Es ermöglicht das Prinzip «plus 1»: Schrittweise einen Gang höher schalten, ausprobieren – und wenn nötig, ohne Stigma wieder zurückkehren. Eine G-support-Schülerin versucht sich an einer Aufgabe aus G, jemand aus G wagt sich an E, E erhält Einblick in E plus. Diese Durchlässigkeit motiviert und schafft die Basis für Lernerfolge und Sprachenlernen.
Was erhoffen Sie sich vom neuen Lehrmittel?
Dass jedes einzelne Kind dort abgeholt wird, wo es steht, und dass es am Abend sagen kann: Heute habe ich in Englisch etwas gelernt. Gleichzeitig soll das Lehrmittel im Schulalltag funktionieren und Lehrpersonen die Arbeit erleichtern. Kurz: ein Lehrmittel, in dem sich jedes Kind wiederfindet, und das breit genutzt werden kann.