Diversität in Lehrmitteln

von Franziska Meier - 03 Mai 2024
Bücher, die im Lehrmittel "Deutsch" eine Rolle spielen

Von Lehrmitteln wird erwartet, dass sie unseren Alltag widerspiegeln und unsere diverse Gesellschaft abbilden. Kinder und Jugendliche wollen und sollen in ihrer Lebenswelt abgeholt werden. Was das konkret bedeutet, erklären wir am Beispiel von «Deutsch Sieben bis Neun».

Der Begriff «Diversität» kommt im Lehrplan 21 nicht vor. Festgelegt ist hingegen, dass Schüler und Schülerinnen Diskriminierung erkennen und reflektieren können sollen. Die beiden Themen hängen zusammen: Während Diversität oft in positivem Kontext verwendet wird, findet Diskriminierung dann statt, wenn «das Andere» – also einzelne Merkmale einer Menschengruppe – negativ gewertet wird.

Literatur: mehr als nur weisse Hauptfiguren

Wie stellt der Lehrmittelverlag Zürich sicher, dass durch seine Lehrmittel die entsprechenden Lernziele erreicht werden und gleichzeitig unsere diverse Gesellschaft abgebildet wird?

«Bei der Entwicklung der Lehrmittel spielt das Diversitätskriterium eine grosse Rolle», sagt Projektleiterin und Redaktorin Daniela Rauthe. Redaktorinnen wie sie sind die Schnittstelle zwischen den externen Lehrmittel-Autorenteams und dem Verlag. Somit nehmen sie eine wichtige (Kontroll-)Funktion ein. «Bei Fotos und bei den Aufgaben und natürlich bei der Auswahl der literarischen Texte achten wir darauf, die Gesellschaft in ihrer Vielfalt abzubilden», so Rauthe. Derzeit betreut sie den Sekundarschulteil des Lehrmittels «Deutsch». «Bei der Suche nach geeigneten literarischen Texten war uns wichtig, nicht nur Jugendromane mit weissen Hauptfiguren auszuwählen.» So kommt in «Deutsch Sieben» der Roman «Asphalthelden» zum Einsatz. Dieser wurde von einem schwarzen Autor, dem Amerikaner Jason Reynolds, für Schwarze geschrieben. Beim Roman «Poet X» in «Deutsch Acht» ist es mit Elizabeth Acevedo eine amerikanische Frau of Colour, die explizit für schwarze Mädchen schreibt.

Von anderen Perspektiven profitieren

Aber natürlich ist bezüglich Diversität nicht nur die Hautfarbe, sondern auch das Thema Migration zentral. Im Roman «Tauben fliegen auf» von Melinda Nadj Abonji, der für «Deutsch Neun» ausgewählt wurde, migriert die Hauptfigur aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Schweiz. «Die Autorin selbst kann mit dem Etikett Migranten- oder Secondo-Literatur nichts anfangen, sondern findet die Schicht viel entscheidender als das Herkunftsland. Doch mit den Auszügen aus dem Roman können wir auch Migrantenkindern eine Stimme geben», so Daniela Rauthe. Die Schweizer Jugendlichen könnten so im Gespräch über die Literatur von den Perspektiven und Erfahrungen ihrer eingewanderten Mitschülerinnen und Mitschüler profitieren.

Menschen mit Behinderung sichtbar machen

Diversität heisst auch, Menschen mit Behinderungen im Lehrmittel sichtbar zu machen. Für «Deutsch Neun» fiel die Wahl auf die Graphik Novel «Kondensstreifen im Kopf» von Till Lukat, in der eine der Figuren auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Daniela Rauthe: «Die Behinderung wird gar nicht problematisiert, sondern die Figur ist einfach Teil der Handlung, wie die anderen Figuren auch.» 

Das Problem mit «sich im falschen Körper fühlen»

Auch das Thema Transgender spielte bei der Literaturauswahl eine Rolle. In «Deutsch Acht» werden Auszüge aus «Nicht so das Bilderbuchmädchen» vorgestellt, einer Geschichte über einen trans Jungen. Bei der Entwicklung dieses Moduls wurde auch eine Fachperson beigezogen: Evianne Hübscher, gemäss eigener Website ein «non-binärer trans Mensch» (www.nonbinary.ch, zudem https://www.geschlechtervielfalt.ch/ und https://www.geschlechter-radar.org/). Evianne Hübscher las die Romanauszüge, Aufgaben und Lösungen und gab dazu Feedback. Unter anderem führte das zu einem Austausch über den Ausdruck «sich im falschen Körper fühlen». Evianne Hübscher schrieb in ihrem Feedback: «Die Erklärung mit dem «falschen» Körper verwenden trans Menschen vor allem deshalb, weil sie für cis Personen* gut nachvollziehbar scheint. Viele trans Menschen sehen aber ihren Körper nicht als «falsch», sondern eher die Reaktionen von anderen (cis) Menschen auf ihren Körper.» Die entsprechenden Stellen im Lehrmittel und im Handbuch wurden daraufhin angepasst.

* cis bedeutet, dass das empfundene und das bei der Geburt zugeschriebene Geschlecht übereinstimmen.

Vom generischen Maskulinum bis zum Trema-ï

In «Deutsch Neun» wird Gendern als ein Beispiel für Sprachwandel aufgegriffen. Anhand von zwei fiktiven Stellenanzeigen aus den 70er-Jahren und der Gegenwart wird das damals übliche generische Maskulinum den heutigen Schreibweisen gegenübergestellt. Ein Sachtext zeigt die Entwicklung vom Schrägstrich (Lehrer/-in) bis hin zum Trema-ï auf (Lehrerïnnen).

Projektleiterin Daniela Rauthe: «Wir nehmen hier keine Wertung vor. Die Jugendlichen werden nicht gefragt, welche Schreibweisen sie besser, welche sie schlechter finden. Stattdessen wird die Sprachentwicklung sachlich dargestellt. Und dennoch gab es bei der Erarbeitung dieses Themas intensive Diskussionen mit den in- und externen Verantwortlichen – es ist ein heikles Thema.»


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