Das Bilderbuch «Besuch vom kleinen Wolf» richtet sich mit seiner Mehrsprachigkeit besonders an Familien mit Migrationshintergrund. Im Oktober las die Autorin und Illustratorin Silvia Hüsler bei «Zürich liest» aus ihrem Buch vor. Im Interview spricht sie über dessen sprachfördernde Wirkung.
Frau Hüsler, Ihr Bilderbuch handelt von einem kleinen Wolf, der sich heimlich in einen Kindergarten schleicht und dort allerlei Sachen entdeckt. Wie entstand die Idee für diese Geschichte?
Ich wollte den Kindergartenalltag zeigen, so wie ihn die Kinder kennen, mit den vertrauten Spielen und Aktivitäten. Dazu wollte ich ein kleines Wesen erfinden, das sich neugierig in der ihm fremden Umgebung umschaut und den Kindergarten aus einer Aussenperspektive entdeckt.
Und warum ausgerechnet ein Wolf?
Wölfe faszinieren mich. Sie sind nicht einfach süsse Kuscheltiere, sondern tragen etwas Unheimliches in sich. Kinder verstehen diese Widersprüchlichkeit gut. Bei meinen Lesungen erlebe ich oft, dass sie die Geschichte weiterdenken und sich beispielsweise ausmalen, wie der Wolf den Znüni stiehlt oder in der Garderobe die Schuhe vertauscht.
«Die Kinder freuen sich, wenn sie das Wort für <Wolf> in ihrer Erstsprache im Buch finden.»
War die Mehrsprachigkeit des Buches von Anfang an geplant?
Ja, sie entspricht der sprachlichen Vielfalt in unseren Schulklassen. Das Buch enthält acht Sprachen, 22 weitere können online heruntergeladen werden. Die Geschichte ist sehr einfach und nah an der Alltagswelt der Kinder. Die Idee dahinter ist, den Kindergarten selbst zum Thema zu machen und so den spezifischen Wortschatz bei allen Kindern zu festigen.
Wie unterstützt das Buch das Deutschlernen der Kinder?
Geschichten zu erzählen und zu hören ist ein ganz wichtiger Teil der Sprachförderung. Im Kindergarten liest die Lehrperson das Bilderbuch mehrmals vor, sie betrachten zusammen die Bilder, es wird dazu gespielt, gebastelt und gemalt. Kinder mögen es, ein und dieselbe Geschichte viele Male zu hören. Beim erneuten Vorlesen wird ein Kind, das noch wenig Deutsch versteht, interessierter zuhören, besser verstehen und sich schliesslich aktiv bei den Spielen rund um die Geschichte beteiligen. Das wiederholte Erzählen stärkt das Sprachverständnis und Zugehörigkeitsgefühl der Kinder.
Warum ist die Elternbeteiligung so wichtig?
Wir motivieren die Eltern, den Kindern das Buch zu Hause in ihrer Erstsprache vorzulesen. Die Kinder können so besser von ihren Erlebnissen erzählen und ihre Eltern am Kindergartenalltag teilhaben lassen. Das schlägt eine sprachliche Brücke zur Kindergartenwelt. Zudem wird die Erstsprache gefördert und Eltern werden zum Vorlesen angeregt. So entstehen Synergien, die dem Spracherwerb in beiden Sprachen zugutekommen.
Wie reagieren Kinder auf die Geschichte und was sollen sie aus dem Buch mitnehmen?
Bei zweisprachigen Lesungen erlebe ich häufig, dass Kinder sehr an der ihnen unbekannten Sprache interessiert sind. Die Wörter in 54 Sprachen auf der allerersten Seite zeigen ihnen: Du und deine Erstsprache gehören dazu. Ich hoffe, dass das Buch die Kinder erkennen lässt, wie bereichernd es ist, zwei Sprachen zu sprechen, und dass sie stolz auf ihre Erstsprache sind. Diese Erkenntnis kann ihnen dabei helfen, eine zweisprachige Identität zu entwickeln.
Am Sonntag schleicht ein kleiner Wolf in den Kindergarten, erkundet die Spielsachen und beschliesst zu bleiben. Als die Kinder am Montag kommen, versteckt er sich und beobachtet sie eine Woche lang beim Spielen, Singen und Malen. «Besuch vom kleinen Wolf» richtet sich an alle Kindergartenkinder und ermöglicht auch den Einbezug von Eltern mit anderen Familiensprachen. Zum Bilderbuch gibt es Unterrichtsmaterialien und eine Audio-CD.
Silvia Hüsler, die Fachfrau für interkulturelle Pädagogik, schreibt und illustriert Kinderbücher, die immer auch Kinder mit Migrationshintergrund und deren Sprachen zum Thema haben. Für die Illustrationen arbeitet sie gerne mit Linoldrucken und Aquarellfarben.