Grammatik im modernen Deutschunterricht

von Franziska Meier und Katja Hafner - 04 Mai 2023
Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Dr. hc. Peter Gallmann in rotem Poloshirt

Sprachwissenschaftler Peter Gallmann, Fachexperte für Grammatik und Rechtschreibung beim Lehrmittel «Deutsch» und Co-Autor «Deutsche Grammatik», erklärt im Interview, welchen Stellenwert Grammatik im modernen Deutschunterricht einnimmt und warum Lehrpersonen die Grammatik nicht neu lernen müssen.


Herr Gallmann, Sie haben sich intensiv mit Deutscher Grammatik befasst. Welchen Stellenwert hat die Grammatik heute?

Sie ist wichtig. Nur wenn wir ein Verständnis für das System unserer Sprache entwickeln, ist es uns möglich, anspruchsvolle Texte zu verstehen und auch selbst Texte so zu schreiben, dass andere sie verstehen. Aber in Bezug auf Grammatik ist auch ein anderer Aspekt wichtig: Was muss ein Erwachsener über die Sprache wissen, um mitdiskutieren zu können?


Wie meinen Sie das?

Sprache ist ein Alltagsthema. Man unterhält sich über Unterschiede, etwa dass in der Schweiz Kleiderkasten verwendet wird, was man in Deutschland absolut nicht versteht, dort heisst es Kleiderschrank. Oder dass wir im Schweizerdeutschen kein Präteritum haben. Man unterhält sich über Gender-Schreibweisen wie SchülerInnen oder Schüler*innen und über das Absterben des Genitivs. Die Kontrollfrage, was ein Erwachsener braucht, um bei solchen Diskussionen fundiert mitreden zu können, zeigt uns, was die Schule an Grundlagen liefern muss: Die zukünftigen Erwachsenen sollen später im Leben von der Schule her genug Wissen mitbringen, sodass sie sich bei solchen Themen nicht aus dem hohlen Bauch heraus äussern müssen. Über die Frage, was genau die Schülerinnen und Schüler wissen sollten, tauschen sich die Lehrmittelautorinnen und -autoren regelmässig und intensiv aus.

«Es ist wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler die Regeln, die sie lernen, auch verstehen.»


Was bringt das neue Lehrmittel «Deutsch» Neues für die Schülerinnen und Schüler?

Früher standen in der Schule das Einhalten und Trainieren von Regeln sowie das Bestimmen von grammatischen Merkmalen im Zentrum. Die Gründe dafür hat man teilweise aus den Augen verloren, aber das ändert sich derzeit. Es ist wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler die Regeln, die sie lernen, auch verstehen. Und auch das Bestimmen von Merkmalen muss einen Sinn haben. Wenn man beispielsweise die vier Fälle bestimmt, sollten die Schülerinnen und Schüler auch erfahren, warum es dieses Phänomen im Deutschen überhaupt gibt und welche Regeln hinter ihrem Gebrauch stehen. Nur so führt die Schule die Kinder und Jugendlichen zu neuen Einsichten über die Struktur unserer Sprache. Die Schülerinnen und Schüler sollen Grammatik nicht um der Grammatik willen büffeln, sondern ihr Wissen über Sprache im Alltag anwenden können. Grammatik muss eine Hilfe für ihr Leben sein.


Wie begeistert man sie für die Grammatik?

Da gibt es viele Möglichkeiten. Lehrpersonen können der Klasse Texte geben, in denen grammatische oder orthografische Fehler vorkommen, und dazu fragen: Was stimmt nicht? Und warum wissen wir, dass es nicht stimmt? Dankbar sind auch Sprachnörgelglossen aus den Medien. Da lässt sich diskutieren, welche Meinung nun stimmt, wer Recht hat und wer nicht und wie man das überhaupt herausfindet. Auch der Sprachwandel bietet sich an. Man kann durchaus auch Kindern schon mittelhochdeutsche Texte mitbringen. Wenn man ihnen Beispiele gibt wie etwa den Klassiker Anredeformen – «Komme Er herein» –, dann sehen sie, wie sich die Sprache verändert hat. Das Gleiche mit der Jugend- und Erwachsenensprache: Natürlich können Jugendliche noch nicht wissen, was an der Sprache konstant ist und was sich ändert, aber man kann sie durchaus fragen: Stellt euch vor, ihr seid zehn Jahre älter. Welche Slangworte würdet ihr wohl noch benutzen, welche nicht mehr? Solche Diskussionen können natürlich noch weitergehen.

«Im Alltag muss man Regeln nicht allzu wichtig nehmen, in der mündlichen Kommunikation sind die meisten Menschen fehlertolerant.»


Wohin?

Zum Stellenwert von Sprachnormen in unserer Gesellschaft. Im Alltag muss man Regeln nicht allzu wichtig nehmen, in der mündlichen Kommunikation sind die meisten Menschen fehlertolerant. Es ist aber hilfreich zu wissen, dass es viele Menschen gibt, bei denen der Gebrauch der schriftlichen Sprache mit Vorurteilen verbunden ist. Die also ihre Mitmenschen je nach «guter» oder «schlechter» Formulierung als gescheit oder dumm beurteilen. In der zweiten oder dritten Sekundarklasse kann man solch wichtige Themen durchaus schon diskutieren.


Sie sind Mitautor des komplett überarbeiteten Nachschlagewerks «Deutsche Grammatik» – was ist neu?

Die jetzige Neubearbeitung hatte die folgenden Schwerpunkte: In der Satzlehre sind das Konzept der Wortgruppe und das Feldermodell mit den drei Satzmustern völlig überarbeitet worden. In den Kapiteln zu den Satzgliedern und zu den zusammengesetzten Sätzen geht die Darstellung verstärkt von den prototypischen Erscheinungen aus. Ausserdem sind die kleiner gesetzten Hinweise für die Lehrpersonen aktualisiert worden.


Zur Person

Der Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Dr. hc. Peter Gallmann hatte bis 2017 den Lehrstuhl für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Friedrich-Schiller-Universität Jena inne. Inzwischen im Pensionsalter, lehrt er nach wie vor in Deutschland. Er war Mitglied der inzwischen aufgelösten Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung und vertritt heute noch die Schweiz im Nachfolgegremium Rat für deutsche Rechtschreibung. Ursprünglich Korrektor, hat Gallmann neben diversen Publikationen auch an der Schülerduden-Grammatik und an der «grossen» Dudengrammatik mitgewirkt, und zwar in den Bereichen Syntax und Deklination.

Wie wichtig ist Grammatik in eurem Alltag?
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«Deutsch» – vom Kindergarten bis zur Sekundarstufe I

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«Deutsch» ist das neue Lehrmittel für den Deutschunterricht vom Kindergarten bis zur 3. Sekundarklasse. Die Lehrmittelreihe basiert auf einem durchgängigen Gesamtkonzept und ist über alle Klassenstufen hinweg einheitlich aufgebaut. Mit seiner linearen Grundstruktur und dem modularen Aufbau der Kapitelthemen gewährleistet «Deutsch» für den 1. bis 3. Zyklus den systematischen Aufbau von Sprachkompetenzen über alle Schulstufen hinweg. Die Lehrmittelreihe wird gestaffelt eingeführt. Bereits erschienen sind «Deutsch Kindergarten», «Deutsch Eins», «Deutsch Zwei» und «Deutsch Sieben».

«Deutsche Grammatik» – erweitert und aktualisiert

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Die «Deutsche Grammatik» von Peter Gallmann und Horst Sitta ist erstmals 1985 erschienen. Die Neuausgabe 2023 ist auf den Lehrplan 21 und neuere Erkenntnisse der Fachdidaktik und Grammatikschreibung hin angepasst und erweitert worden. Sie gibt einen fundierten Überblick über die Grammatik, wie sie an Schweizer Schulen gelehrt wird, vermittelt Hintergrundwissen und gibt Lehrpersonen Tipps für den Unterricht. Zudem ist sie die ideale Ergänzung zu «Deutsch»: Konzepte und Begriffe stimmen überein, sodass die «Deutsche Grammatik» Lehrpersonen bei der Arbeit mit «Deutsch» optimal unterstützt.


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