«Leseförderung ist in allen Fächern wichtig»

von Jennifer Zimmermann - 24 April 2024
Nora Kernen in der Bibliothek

Die letzte PISA-Studie hat gezeigt, dass ein Viertel der Jugendlichen in der Schweiz die Mindestanforderungen im Lesen nicht erfüllt. Nora Kernen, Dozentin der Professur für Deutschdidaktik und ihre Disziplinen an der PH FHNW, gibt Empfehlungen, wie Lehrpersonen die Lesekompetenz fördern können.

Die Lesekompetenz von Jugendlichen in der Schweiz hat sich gemäss der letzten PISA-Studie verschlechtert. Jeder vierte ist leistungsschwach; 2015 war es noch jeder fünfte. Frau Kernen, was bedeutet Lesekompetenz?
Die OECD definiert Lesekompetenz wie folgt: «Die Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen, über sie zu reflektieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.»

Und wie definieren Sie Lesekompetenz?
In der Fachdidaktik beachten wir kognitive, subjektive und soziale Anteile von Lesekompetenz. Die kognitiven Anteile umfassen alle Prozesse, die eher technisch sind und sich kleinschrittig trainieren lassen. Zu subjektiven oder persönlichen Aspekten gehören unter anderem Lesefreude oder auch das Involviert-Sein bei Lektüren. Auch gehört die Vorstellung dazu, die jemand von sich selbst als lesender oder eben nichtlesender Person hat, das Selbstbild. Die sozialen Anteile beziehen sich auf die Interaktion mit anderen. «Anschlusskommunikation» ist hier das Stichwort – ich trete über die Lektüre mit anderen in Kontakt und bin mit ihnen im Gespräch. Letzteres ist für die Leseförderung nicht zu unterschätzen.

Wie können Lehrpersonen diese Anschlusskommunikation fördern?
Sie können ihren Lernenden zum Beispiel den Auftrag erteilen, ein Lesetagebuch zu führen und dieses zum Anlass für Gespräche nehmen. Auch Buchvorträge können hilfreich sein: Ich finde es faszinierend zu sehen, wie Kinder und Jugendliche viel mehr darauf anspringen, wenn sie von ihrer Peer Group eine Lektüreempfehlung erhalten, als wenn diese von einer Lehrperson kommt. Auch die digitale Welt bietet da tolle Möglichkeiten, zum Beispiel über BookTok. Mit älteren Schülerinnen und Schülern können Theaterbesuche eine gute Möglichkeit für Gespräche sein. Narration geschieht nicht nur über Bücher, sondern ebenso übers Theater oder über Filme.

Wieso ist Leseförderung in allen Fächern wichtig?
Leseförderung ist nicht nur Sache des Deutschunterrichts, denn wir brauchen das Lesen in allen Fächern. Da sind Ansätze des sprachbewussten Fachunterrichts wichtig: Lehrpersonen berücksichtigen dazu in ihrem Fachunterricht die sprachlichen Besonderheiten der Fächer. Es gibt viele Forschungsergebnisse, die zeigen, dass sich zum Beispiel der Wortschatz von bildungsnahen Kindern schon im Kleinkindalter sehr stark vom Wortschatz von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern unterscheidet. Es gibt zudem Forschungsergebnisse, die zeigen, dass Schülerinnen und Schüler, die eine schlechtere Sprachkompetenz haben, auch im fachlichen Lernen schlechter sind. Das heisst, das fehlende sprachliche Können steht ihnen im Fachlernen im Weg.

Wie können Lehrpersonen ihren Unterricht sprachbewusst gestalten?
Unter anderem im Mathematikunterricht gibt sehr schöne Beispiele: So hat «gerade» bei der «geraden Zahl» eine andere Bedeutung als «gerade» im Gegensatz zu «krumm» in der Alltagssprache. Sich solche Besonderheiten der Fachsprache bewusst zu machen und diese im Unterricht zu thematisieren, ist wichtig. Es ist nicht das Ziel des sprachbewussten Fachunterrichts, dass man fachspezifische Lexik weglässt und nur allgemeinere Vokabeln verwendet. Aber es ist gut, wenn die Lehrpersonen sich vor Augen führen, dass sie Wörter verwenden, die ihn ihrem Fach eine spezielle Bedeutung haben und dies im Unterricht dann thematisieren. Das kann zum Beispiel mithilfe eines Wortnetzes geschehen, das man im Klassenzimmer aufhängt. Darauf sind Wörter abgebildet, die inhaltlich in gemeinsamen Zusammenhängen auftauchen.

Welche weiteren Methoden gibt es für einen sprachbewussten Leseunterricht?
Lehrpersonen aller Fächer können «modellieren». Das bedeutet, dass sie ihr eigenes Verstehen laut aussprechen. Sie können einen Text vorlesen und dabei verbalisieren: «Hm, das ist aber ein komischer Begriff.» Oder: «An der Stelle komme ich nicht mit. Das markiere ich und komme später darauf zurück.» Das zeigt den Schülerinnen und Schülern Strategien auf, wenn sie beim Lesen straucheln. Zudem werden sich die Lehrpersonen bewusst, an welchen Stellen und bei welchen Wörtern es für die Schülerinnen und Schüler schwierig werden kann.

Schreibende Hände

Gibt es eigentlich unterschiedliche Arten des Lesens?
Ja, die gibt es. Ich kann einen Text literarisch lesen; sprich, ich kann den Text geniessen, weil er sprachlich schön gestaltet ist. Ich kann mich aber auch mithilfe eines Sachtextes über mein Hobby informieren und dann mit Freunden darüber reden. Oder ich kann einfach zur Entspannung eine schöne Liebesgeschichte lesen, die ich für mich behalte. Ich finde es wichtig zu wissen, dass es ganz verschiedene Varianten von Lesen gibt und nicht die eine Art, die am besten ist. Es gibt alles und ich darf mir diejenige Leseart aussuchen, die ich am liebsten mag. Das ist in meinen Augen eine wichtige schulische Aufgabe. Ebenso sollten Lehrpersonen nicht von einer idealtypischen Vorstellung des Lesebegriffs ausgehen. Schülerinnen und Schüler lesen heute viel am Bildschirm und auf sozialen Plattformen; auch das ist Lesen und es ist wichtig, dass Lehrpersonen diese Lesepraktiken nicht ausblenden.

Wie unterscheidet sich das Lesen auf Papier vom Lesen am Bildschirm?
Um Texte online zu lesen, brauchen wir zusätzliche Kompetenzen. Teilweise stellen diese Texte höhere Anforderungen an die Lesenden, weil sie nach anderen Mustern funktionieren. Ich muss beispielsweise wissen, wie ein Hyperlink funktioniert. Ebenso muss ich höhere und andere Kompetenzen mitbringen, wenn es darum geht zu erkennen, ob etwas Fake News ist – woher stammt der Text und wer hat ihn mit welcher Intention geschrieben?

Es ist oft zu lesen, dass wir am Bildschirm einen Text eher überfliegen (scannen), als uns vertieft damit auseinanderzusetzen. Was hat es damit auf sich?
Wenn man «mit einem grossen Raster» auf dieses Thema schaut, dann stimmt es, dass wir am Bildschirm oberflächlicher lesen. Die Forschung schaut allerdings genauer hin und berücksichtigt viele andere Faktoren, beispielsweise, um welche Textart es sich handelt. Eine Metastudie von Delgado et al. belegt unter anderem, dass wir mehr lernen, wenn wir Sachtexte auf Papier lesen. Delgado titelte «Werfen Sie Ihre gedruckten Bücher nicht weg», denn für vertieftes Lesen eignet sich Papier besser. Für erzählende Texte ist die Befundlage noch nicht eindeutig, aber es zeichnet sich ab, dass es weniger Auswirkungen auf unser Verstehen hat, ob wir einen Roman auf dem E-Reader oder als gedrucktes Buch lesen.

Gibt es weitere Unterschiede zwischen dem Lesen auf Papier und dem Lesen auf dem Screen?
Nebst persönlichen Präferenzen und Stärken spielt unter anderem der Faktor Zeit eine Rolle. Wenn Sie wenig Zeit haben, empfiehlt es sich, dass Sie den Text auf Papier lesen, so erfassen Sie mehr. Andererseits haben digitale Texte natürlich ein enormes Potenzial; beim Recherchieren kann ich beispielsweise in E-Publikationen sehr schnell nach einzelnen Begriffen suchen.

Zur Person

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Dr. Nora Kernen ist Dozentin an der Professur für Deutschdidaktik und ihre Disziplinen, Institut Sekundarstufe I und II der PH FHNW. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Literatur- und Lesedidaktik, Empirische Unterrichtsforschung, Kompetenzdiagnostik sowie Didaktik des Zuhörens/ Hörverstehens.


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