Vom Umgang mit Hochbegabung

von Tatjana Stocker - 11 Dezember 2024
Illustrationen Kinder

«Lichtblick für helle Köpfe» wird als Standardwerk zum Thema Hochbegabung geschätzt. Was es im Umgang mit begabten Kindern zu beachten gilt, erzählt Joëlle Huser, Autorin und Expertin für Begabtenförderung.

Frau Huser, was versteht man unter einer Hochbegabung?

Eine exakte Definition ist schwierig. Früher galt: Wer einen IQ von 130 hat, ist hochbegabt. Heute sind sich die Expertinnen und Experten einig: Das greift viel zu kurz. Denn der IQ ist keine feste Grösse, er verändert sich. Ausserdem gibt es viele Arten von Begabung. Deshalb spreche ich lieber von «Kindern mit hohem Potenzial» und vermeide Etikettierungen.

Wie merkt man, ob man es mit einem solchen Kind zu tun hat?

Es gibt Kinder, bei denen es alle gleich wissen, weil sie den Gleichaltrigen meilenweit voraus sind. Ein solches Kindergartenkind kann problemlos frühzeitig eingeschult werden. Es kann aber auch sein, dass sich das hohe Potenzial versteckt. Es gibt die Minderleistenden, Kinder, die zwar einen hohen IQ haben, ihre Fähigkeiten aber noch nicht in Leistung umsetzen können. Oft, weil sie sich in der Schule schon zu lange langweilen und sich deshalb nicht mehr anstrengen mögen. Eine hohe Begabung kann auch aufgrund einer Hör- oder Sehbeeinträchtigung erst spät entdeckt werden.

Wenn es Hinweise auf eine Hochbegabung gibt: Wie geht es dann weiter?

Die erste Anlaufstelle ist meist der Schulpsychologische Dienst. Dort wird aber nicht immer umfassend abgeklärt, und das Know-how zur Thematik ist sehr unterschiedlich. Manchmal wird zwar festgestellt, dass das Kind hochbegabt ist, es werden aber keine Fördermassnahmen getroffen. In der Regel ist der Schulpsychologische Dienst nicht auf die obersten 2 bis 10 Prozent der Kinder spezialisiert. Diese Kinder landen deshalb oft in unserer Praxis.

Gemaltes Bild: Fisch der gegen den Strom schwimmt
Kreative Kinder schwimmen oft gegen den Strom.

Was schätzen Lehrpersonen am «Lichtblick»?

Die konkreten Anleitungen und Materialien für die Unterrichtspraxis, die eins zu eins im Unterricht eingesetzt werden können. Zu jedem Kapitel gibt es weiterführende Anregungen, Tipps und Spielempfehlungen. Auch Arbeitsmaterialien sind verfügbar und separat erhältlich.

Wie soll man sich eine solche Anleitung für den Unterricht vorstellen?

Mit dem Interessenfragebogen lässt sich herausfinden, wofür sich ein Kind begeistert. Zeigt sich etwa, dass ein unterfordertes Mädchen für naturwissenschaftliche Experimente motiviert ist, finden Lehrpersonen im entsprechenden Kapitel stufengerechte Beispiele dazu, die gleich umsetzbar sind.

Was ist das Wichtigste im Umgang mit hochbegabten Kindern?

Diesen Kindern nicht mit Vorurteilen zu begegnen. Es gilt, Verständnis zu zeigen und anzuerkennen, dass es auch bei Kindern, die schnell sind im Denken, zu Schwierigkeiten in der Schule kommen kann. Die Annahme, dass man begabten Kindern keine Aufmerksamkeit zu schenken braucht, weil sie sowieso Überflieger sind, ist immer noch verbreitet. Dabei haben auch diese Kinder besondere Bedürfnisse und sind oft sehr feinfühlig.

Wie sinnvoll ist es, Kinder eine Klasse überspringen zu lassen?

Diese Massnahme gehört zu den am besten erforschten mit den besten Resultaten. Nicht nur von der Leistung her, sondern auch im emotionalen Bereich – und das auch langfristig. Dennoch hat das Klassenüberspringen immer noch einen schlechten Ruf. Es wäre wünschenswert, dass sich die Erkenntnisse der Forschung auch in der Praxis niederschlagen.

Handgeschriebenes Gedicht
Gedicht eines achtjährigen Kindes mit besonderen sprachlichen Fähigkeiten.

Es gibt Kinder, die grosse Stärken, andererseits aber auch grosse Schwächen haben. Wie geht man damit um?

In unserem Bildungssystem wird häufig bei den Schwächen angesetzt statt bei den Stärken. Ein Kind, das mathematisch drei bis vier Jahre voraus ist, aber Mühe mit dem Schreiben hat, bekommt etwa eine Legasthenie-Therapie, aber keine Förderung in der Mathematik. Ich plädiere dafür, den Schwerpunkt grundsätzlich auf die Stärken zu legen. Und bei den Ressourcen anzusetzen, nicht beim Defizit.

Sie waren selbst Lehrerin. Wie sind Sie aufs Thema Hochbegabung gekommen?

Wie viele dachte ich, dass Kinder, die besonders intelligent sind, problemlos durch die Schulzeit kommen – bis ich selbst konfrontiert wurde mit der Depression meiner Tochter. Die Schule war für sie todlangweilig. Für solche Kinder möchte ich Verständnis schaffen. Helle Köpfe sind beileibe keine Einzelfälle: Es gibt in jeder Klasse durchschnittlich ein bis zwei Kinder, die deutlich unterfordert sind und besondere Bedürfnisse haben. Gerade wenn sie einen Migrationshintergrund haben, werden begabte Kinder oft übersehen.

Wieso ist das so?

Kinder mit einem anderen Sprachhintergrund werden tendenziell als dümmer angesehen – einfach, weil sie unsere Sprache noch nicht beherrschen. Wenn ein begabtes fremdsprachiges Kind wegen der Sprache zurückgestuft wird, kann sich das jedoch fatal auf die Schullaufbahn auswirken. Deshalb sind die Eltern-Fragebogen in den Arbeitsmaterialien in neun Sprachen übersetzt.

Was kann unsere Gesellschaft im Umgang mit Hochbegabung noch lernen?

Dass man helle Köpfe in erster Linie nicht als Belastung ansieht, sondern als Ressource. Denn wenn man ein Kind mit einem hohen Potenzial adäquat fördert, ist dieses Kind später ein Gewinn für unsere Gesellschaft.

Zur Person

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Joëlle Huser ist ausgebildete Sekundarlehrerin und verfügt über langjährige Erfahrung in der Aus- und Fortbildung von Lehrpersonen. Sie engagiert sich aktiv im Bereich der Begabtenförderung und bietet Kurse und Beratungen für Eltern sowie Lehrpersonen an.

Das Handbuch

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«Lichtblick für helle Köpfe» richtet sich an Lehrpersonen aller Schulstufen. Das Handbuch will nicht nur die besonders begabten Schülerinnen und Schüler fördern und vielfältige Potenziale erkennen, sondern alle Lernenden als potenziell leistungsfähig ansprechen.


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